Christian Dürr: Haben größtes Bürokratieabbau-Programm der Geschichte geschaffen
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab der „Nordwest-Zeitung“ (Montagsausgabe) und „nwzonline.de“ das folgende Interview. Die Fragen stellten Alexander Will und Luise Charlotte Bauer.
Frage: Für die FDP sieht es bei den Ergebnissen der Europawahl im Vergleich zur Bundestagswahl gar nicht so schön aus. Müssten ihre Gremien jetzt nicht im Dauerkrisenmodus tagen?
Dürr: Im Vergleich zu 2019 hat die FDP dank höherer Wahlbeteiligung etwas mehr Stimmen gehabt als bei der letzten Europawahl. Mehr würde ich mir immer wünschen, keine Frage. Aber wenn ich es mit den anderen Parteien vergleiche, sind wir stabil geblieben gegenüber der letzten Europawahl.
Frage: Im Vergleich zur Bundestagswahl hat sich ihr Ergebnis halbiert.
Dürr: Der Unterschied zwischen Europa- und Bundestagswahl ist, dass wir hier ein Einstimmen-Wahlrecht haben. Die, die Freien Demokraten wählen, wählen ausschließlich die Freien Demokraten. Auf Bundesebene gibt es mit zwei Stimmen ein etwas anderes Wahlverhalten. Nichtsdestotrotz haben wir ein sehr ordentliches Ergebnis, wenn man auf die Umfragen vor der Wahl schaut.
Frage: In Umfragen haben Sie in Sachsen zwei Prozent, in Thüringen zwei Prozent und in Brandenburg drei Prozent. Nach diesen Umfragen wird die FDP nicht in die Landtage kommen. Wie ist die Stimmung da? Haben Sie Ostdeutschland schon aufgegeben?
Dürr: Die FDP ist eine Partei, die kämpft. Das haben wir mehrfach bewiesen. Was ich damit sagen will, ist: Die Menschen werden zu Wahlterminen sehr genau schauen, welche Partei sich dafür interessiert, dass wir dieses Land wirtschaftlich nach vorne bringen. Wir haben sowohl auf europäischer Ebene als auch auf Bundesebene sehr viel Reformpolitik zu erledigen. Einiges sind wir bereits angegangen. Dass die FDP die Partei ist, die für marktwirtschaftliche Reformen steht, ist klar.
Frage: Das unglückliche Agieren Christian Lindners in der Ministerpräsidentenaffäre in Thüringen wird ja wohl auch nicht vergessen sein und wird sicher auch dazu beitragen, oder nicht?
Dürr: Ich erkenne da kein unglückliches Agieren, sondern Klarheit in der Sache. Aber ich frage mich, interessieren sich Menschen wirklich dafür, wenn Politik nur über sich selbst spricht? Ich glaube, Menschen fragen sich, wie es mit dem Land weitergeht. Unser Wachstum ist zu gering. Wir brauchen eine Wirtschaftswende in Deutschland. Nehmen Sie das Beispiel Planungsbeschleunigung: Was früher bei der öffentlichen Infrastruktur, etwa bei Brücken, Jahrzehnte gedauert hat, das dauert jetzt zwei Jahre. Dinge gehen schneller, das sehen wir gerade beim Neubau der Huntebrücke. Ich wünsche mir, dass wir diese Reformgeschwindigkeit auch bei privaten Investitionen hinbekommen. Ohne Wachstum werden wir auch unsere verteidigungspolitischen Ziele nicht erreichen können.
Frage: Um nochmal auf den Wähler zurückzukommen: Wenn man nicht in die Partei, sondern in das liberale Milieu in Deutschland hineinhört, hört man, dass die FDP massiv Vertrauen verloren hat, weil sie in den letzten zweieinhalb Jahren rot-grüne-Politik ermöglicht hat. Wie wollen Sie dieses Vertrauen wieder aufbauen?
Dürr: Die Frage ist, was Sie mit rot-grüner-Politik meinen. Die Schuldenbremse einhalten? Die Steuern zu senken? Bürokratieabbau zu betreiben? Das ist aus meiner Sicht keine rot-grüne-Politik. Das ist urliberale Politik. Wir haben das größte Bürokratieabbau-Programm unserer Geschichte geschaffen. Wir halten die Schuldenbremse ein. Hat die Große Koalition das geschafft? Nein. Jedenfalls nicht da, wo es darauf ankam. Bei den Finanzmitteln hat die Große Koalition die Schuldenbremse regelmäßig gerissen.
Frage: Sie haben Schlimmeres verhindert.
Dürr: Was Schlimmeres verhindert, ist ein Nachsagen, das ich nicht teile. Die Große Koalition hat die Frage der Planungsbeschleunigung rauf und runter diskutiert und nichts gebacken bekommen. Wir haben endlich steuerliche Entlastung, gerade für Familien der Mitte, ermöglicht. Ebenso das Einhalten der Schuldenbremse. Die Große Koalition hat weniger gestritten. Warum? Weil sie jeden Streit mit dem Steuerzahlergeld zugeschüttet hat – zulasten der zukünftigen Generationen. Wir machen es uns nicht so leicht.
Frage: Zur Wahrheit gehört aber auch: Das Sondervermögen für die Bundeswehr ist ein Trick, um die Schuldengrenze zu umgehen.
Dürr: Das Sondervermögen ist ja kein Projekt allein dieser Koalition gewesen. Im Gegenteil: CDU und CSU haben zugestimmt. Übrigens auch, weil sie massive Fehler in der Verteidigungspolitik gemacht haben. Die Bundeswehr ist kaputtgespart worden und da macht man sich als Freier Demokrat nicht vom Acker, sondern beißt im Zweifelsfall auch in den sauren Apfel, damit die äußere Sicherheit nicht gefährdet wird.
Frage: Und der Solidaritätsbeitrag ist noch nicht vollständig abgeschafft.
Dürr: Beim Soli gibt es eine sehr klare FDP-Haltung und ich bin einer der Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht gegen dieses Gesetz. Aber: Mit vielen Positionen wie Marktwirtschaft, Einhalten der Schuldenbremse, steuerlicher Erleichterung und Bürokratieabbau steht die FDP oftmals allein da helfen uns weder CDU und CSU noch SPD und Grüne. Unser Ziel ist es, möglichst viel davon in der Koalition umzusetzen. Müsste noch mehr kommen? Ja, klar. Wir brauchen mehr wirtschaftliche Dynamik – aber die Richtung stimmt.
Frage: Sie haben die Streitereien in der Koalition angesprochen. Im Zuge der Europawahl gab es eine Umfrage von Infratest dimap, die ergab, dass sich 58 Prozent der Befragten darüber ärgern, dass die FDP in der Regierung politische Entscheidungen blockiert. Überlagern die Streitereien die Inhalte?
Dürr: Ja, das kommt bisweilen vor. Und ich würde mich auch gerne lieber weniger streiten. Aber es ist keine Alternative für mich, dass ich mich nicht streite und stattdessen das Falsche entscheide oder alles mit dem Geld der Steuerzahler zuschütte. Streit in der Sache gehört dazu. Der darf nicht unter der Gürtellinie stattfinden. Aber ich bin fest gewillt, dass es nach anderthalb Jahrzehnten schlechter Wirtschaftspolitik in Deutschland wieder in eine andere Richtung geht.
Frage: Der Streit findet aber oftmals sehr öffentlich statt, wie zuletzt beim Rentenpaket II. Vermittelt das nicht einen unprofessionellen Eindruck, wenn man noch mal Streits aufbricht über Themen, die eigentlich schon abgestimmt waren?
Dürr: Das Rentenpaket II enthält einen ganz wichtigen großen Reformschritt: Zum ersten Mal fangen wir mit der Kapitaldeckung der Rente an. Bisher hat die Rentenversicherung von der Hand in den Mund gelebt. Wir sind die ersten in Deutschland, die diesen Schritt gehen – so wie beispielsweise Länder in Skandinavien auch. Ja, ich will das Rentenpaket II und ich will gleichzeitig, dass wir als Koalition dafür sorgen, dass die Rentenbeiträge in den 2030er-Jahren nicht steigen. Ich kenne keinen Koalitionspartner, der sich über steigende Rentenversicherungsbeiträge freut. Wir müssen jetzt daran arbeiten, dass diese abgefedert werden, beispielsweise durch eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters.
Frage: Aber eigentlich war das Paket ja schon zwischen Finanzminister Christian Lindner und Arbeitsminister Hubertus Heil fertig verhandelt. Hat Christian Lindner dann im Voraus nicht gut verhandelt?
Dürr: Ohne Christian Lindner gäbe es keinen Einstieg in die Aktienrente. Das ist ein so wichtiger Baustein für die Stabilisierung der Rente. Bei der Vorstellung des Rentenpakets II hat er deutlich gemacht, dass die Renten auch für die ältere Generation in Zukunft sicher sind und wir sie durch das Generationenkapital absichern. Aber es braucht eben auch eine Sicherheit, dass junge Menschen in den 2030er-Jahren nicht über Gebühr belastet werden. Es wird insofern nicht bei einer Reform bleiben können, das haben wir als FDP immer gesagt. Das Generationenkapital ist ein erster Schritt, aber ich finde, wir brauchen weitere.
Frage: Das Generationenkapital ist ja ein Kapital, was als Kredit aufgenommen und angelegt wird. Ist das wirklich eine schlaue Idee? Die Staaten, die Sie vorhin genannt haben, zum Beispiel Norwegen finanzieren, das aus Geld, das sie haben.
Dürr: Das, was wir tun, ist alles innerhalb der Schuldenbremse. Wir nehmen einen Kapitalstock und schaffen für Millionen von späteren Rentnern und heutigen Arbeitnehmern die Möglichkeit, am Kapitalmarkt teilzunehmen. Das sind Menschen, die bisher daran nicht teilgenommen haben, vielleicht weil sie kein ausreichend hohes Einkommen hatten. Es kann nicht sein, dass nur diejenigen vom Kapitalmarkt profitieren, die schon viel privates Kapital haben. Den Vorwurf der Spekulation, der manchmal zu hören ist, weise ich weit von mir. Dass Kapitalmärkte bessere Renditen erwirtschaften, zeigen alle internationalen Beispiele.
Frage: Sie sagen es ja selbst, der Kapitalstock ist innerhalb der Schuldenbremse. Das ist doch ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Dürr: Das Generationenkapital ist ein Einstieg in die gesetzliche Aktienrente. Ich würde mir wünschen, dass wir in Zukunft weitere Schritte gehen. Ich bin Feuer und Flamme, immer mehr zu tun, aber ich muss akzeptieren, dass ich dafür Mehrheiten brauche. Es ist in jedem Fall besser, als dass Deutschland weiter auf der Stelle tritt.
Frage: Sehen Sie die Ampel noch als Fortschrittskoalition?
Dürr: Das ist die Entscheidung in der Politik: Schauen wir zurück oder blicken wir nach vorne und sind bereit mutige Reformschritte zu machen? In dieser Koalition machen wir letzteres, auch wenn das manchmal zu Streit führt. Deutschland ist viele Jahre auf der Stelle stehen geblieben. Wir sind international nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig. Das muss man aussprechen, weil wir es ändern wollen.
Frage: Noch mal zur Schuldenbremse: Der Druck auf die FDP bei der Schuldenbremse einzulenken ist enorm. Sogar der BDI hat seine Haltung leicht modifiziert. Wie lange glauben Sie denn, können Sie diesen Druck noch aushalten?
Dürr: Für den politischen Raum haben Sie vollkommen recht. Es gibt keine Partei in Deutschland, die klar zur Schuldenbremse steht – mit Ausnahme der FDP. Aber in der Bevölkerung ist das fundamental anders. Eine breite Mehrheit der Deutschen steht zur Schuldenbremse. Und mir sind die Menschen in Deutschland näher als mögliche politische Partner. Im Zweifelsfall kämpft die FDP auch alleine für solche Dinge.
Frage: Deutschland ist bei der Digitalisierung abgehängt. Ist dieser Rückstand überhaupt noch aufholbar?
Dürr: Ja, und wir holen auch auf. Wenn man sich den europäischen Vergleich, was die Ausbaugeschwindigkeit beispielsweise der Glasfasernetze betrifft, anschaut, sind wir auf einmal wieder an der europäischen Spitze. Das hängt damit zusammen, dass wir es jetzt unbürokratischer machen. Da nehmen wir jetzt Geschwindigkeit auf. Wir haben einiges nachzuholen. Bei der digitalen Infrastruktur bin ich zuversichtlich.
Frage: Ist das Faxgerät bald Geschichte?
Dürr: Wir haben noch sehr viel vor uns, den Staat digital zu machen. Der Bund ist meistens Vorreiter, im Bundestag ist das Fax Geschichte. Wir haben schon sehr viel erreicht. Denken Sie an das Thema digitale Kfz-Zulassung. Meine Forderung geht an die Bundesländer: Die haben auch Zusagen gemacht. In den Bundesländern wird aber regelmäßig verzögert. Ich glaube, die Menschen haben den Anspruch, dass der Staat so funktioniert wie eine Banking-App.
Frage: Sie haben den Bund als Vorreiter angesprochen: Es gibt das „Einer-für-alle“-Prinzip. Also, dass Vorreiter ihre Errungenschaften weitergeben. Oft scheitert das aber an Programmen und Prozessen. Ist dieses Prinzip zielführend?
Dürr: Ich will das Prinzip nicht grundsätzlich infrage stellen, aber ehrlicherweise bin ich davon genervt, wie langsam die Länder sind. Ein Beispiel: Die Länder hatten zugesagt, dass sie bei den Ausländerbehörden maximal digitalisieren – auch, damit wir die Migration in den Griff bekommen. Sie haben aber noch nicht ausreichend geliefert. Aber wir müssen doch schnell sein, wenn Menschen in den Arbeitsmarkt einwandern wollen. Und ebenso schnell, wenn es um Rückführen geht. Ich erwarte, dass die Bundesländer jetzt mal zeigen, dass sie auch Powerhouses sind.
Frage: Sind denn genügend Fachkräfte dafür da?
Dürr: Ich nenne mal einen Musterknaben: Rheinland-Pfalz ist bei Asylverfahren das schnellste Land in Deutschland. Die Ausländerbehörden sind dort einfach besser organisiert. Niedersachsen und Bayern können sich daran gleichermaßen ein Beispiel nehmen. Aber dafür müssen diejenigen, die im Unterricht noch nicht so gut waren, die noch keine Eins geschrieben haben, auch mal mit denen zusammenarbeiten, die schon eine gute Leistung hingelegt haben.
Frage: Bei der Digitalisierung geht auch um den Ausbau des Mobilfunknetzes in Deutschland. Wie viel Einfluss darf chinesische Technik haben?
Dürr: Das Ziel muss natürlich sein, dass wir sichere Netze haben und vor allem, dass sie vor Abschaltung sicher sind. Das ist ein Thema, das in den letzten Jahren wie eine heiße Kartoffel herumgereicht worden ist. Jetzt haben wir zum ersten Mal einen Digitalminister und eine Innenministerin, die bereit sind, sich dem zu stellen.
Frage: Wir machen uns zum Beispiel auch bei Rohstoffen für Batterien oder bei Solarpanels von China abhängig. Wiederholen wir gerade Fehler, die wir schon mit Russland gemacht haben?
Dürr: Teilweise sind diese Fehler bereits wiederholt worden. Deswegen bin ich wirklich, wirklich entschieden dagegen, dass wir bei diesen Technologien immer nur auf eines setzen, nämlich auf elektrische Antriebe und elektrische Erzeugung. Wir müssen viel breiter denken in der Energiepolitik und in der Versorgung. Das Konzentrieren auf einige wenige Technologien macht uns wirtschaftlich schwach und abhängig von Ländern wie China. Das ist grundfalsch.
Frage: Stihl investiert in der Schweiz statt in Deutschland. BASF verlagert seine Produktion massiv nach China. Wir haben die zweithöchsten Strompreise der Welt und mancher geplagte Mittelständler macht einfach zu. Wie konnte es so weit kommen?
Dürr: Das sind Auswirkungen von Entscheidungen, die teilweise fünf bis acht Jahre alt sind und von Entscheidungen auf europäischer Ebene. Die Frage ist, ob wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen. Mein Wunsch ist, dass wir diesen Reformweg, den wir eingeschlagen haben, mit höherer Geschwindigkeit fortsetzen. Wir brauchen nicht nur in Berlin, sondern auch in Brüssel eine Wirtschaftswende. Unsere geopolitische Stärke ist unmittelbar mit unserer ökonomischen Stärke verbunden. Wer jetzt nicht alles für wirtschaftliche Stärke tut, gefährdet auch den Frieden. Was Sie beschreiben, besorgt mich sehr. Aber in den letzten zwei Jahren haben wir bei jeder Entscheidung geprüft, ob sie unseren Standort nach vorne bringt. Wir sind eine Koalition, die in Brüssel auch mal gegen Überregulierung vorgeht.
Frage: Ich lese daraus aus dem, was Sie heute gesagt haben, eine Bereitschaft, davon auch politisch zu korrigieren, wo es angebracht ist. Wird es beim Bürgergeld eine Korrektur geben?
Dürr: Da haben wir noch einiges zu korrigieren, was die Vorgängerregierung betrifft. Zum Bürgergeld: Die Höhe des Bürgergeldes ist durch diese Koalition nicht geändert worden. Das ist genauso wie bei Hartz vier ein Warenkorb, der sich errechnet. An dem haben wir gar nichts geändert. Was wir geändert haben ist, dass denjenigen, die sich einer Arbeit total verweigern, das Bürgergeld vorübergehend sogar auf Null gekürzt werden kann. An dem Punkt sollten wir weiter gehen. Dieser Sozialstaat muss effizienter werden. Der Punkt ist, dass der Arbeitsanreiz da sein muss, dass es sich finanziell lohnt, einen Job anzunehmen. Da gibt es sogar Vorschläge vom ifo Institut, die ich absolut spannend finde und auch für richtig halte.
Frage: Sowohl Einwanderer als auch für Menschen, im Sozialsystem, wären wahrscheinlich besser in Arbeit zu bekommen, wenn man einen ökonomischen Anreiz setzt und das ist den Abstand zwischen Arbeitseinkommen und Bürgergeld zu vergrößern. Also müsste man doch schon an die Summe ran.
Dürr: Ich bin für Debatten offen. Es gibt verfassungsrechtliche Grenzen. Aber Sie haben vollkommen recht, Arbeitsanreize sind der Schlüssel. Mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit in einen Job bringen: Eine bessere Sozialpolitik kann man gar nicht machen. Übrigens kann man auch Kinderarmut gar nicht besser bekämpfen.
Frage: Apropos Anreize: Es wird ja gerade als Gegenpol zur Vier-Tage-Woche auch die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche diskutiert. Nach einem Anreiz zu mehr Arbeit klingt das nicht. Wie sehen Sie das?
Dürr: Ich finde, Menschen sollten selbst entscheiden. Ich finde einen Staat komisch, der sagt so und so viele Stunden darfst du höchstens oder mindestens arbeiten. Irgendwann muss Politik mal aufhören, sich in alle Lebensbereiche einzumischen. Wir haben bei einigen Dingen dereguliert. Diesen Weg müssen wir weitergehen. Wir müssen eine Flexibilisierung im Arbeitsmarkt hinbekommen.
Frage: Sie sagen, die Menschen sollen selbst entscheiden. Aber sorgt die Politik denn aktuell dafür, dass die Rahmenbedingungen gegeben sind?
Dürr: Das ist genau der Punkt: Wir sollten bei der Arbeitszeit flexibilisieren, um unterschiedlichen Lebensentwürfen gerecht zu werden. Ich finde, wir können – beispielsweise durch steuerliche Anreize – auch honorieren, wenn Menschen Lust haben, Überstunden zu machen.
Frage: Aber es geht ja nicht nur ums Flexibilisieren. Zum Beispiel hapert es ja schon daran, ob die Kinderbetreuung sichergestellt ist.
Dürr: Wir werden ja die Ganztagsbetreuung im Grundschulbereich in den kommenden anderthalb Jahren schon garantiert haben. Das führt dazu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser wird. Da sind auch die Länder in der Pflicht, denn daskann nicht der Bund allein machen.
Frage: Nochmal zurück zum Bürgergeld: Widerspricht die Debatte um das Bürgergeld für Ukrainer unseren Solidaritätsbekundungen gegenüber der Ukraine?
Dürr: Das ist eine Frage von fairer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Im europäischen Vergleich hinkt Deutschland bei der Beschäftigungsquote unter Ukrainern hinterher. Und das ist nicht gut, denn je mehr Menschen einen Job haben, desto eher sind sie auch gesellschaftlich integriert. Da müssen wir besser werden. Der Job-Turbo des Arbeitsministers ist ein erster Schritt, aber ich kann mir da weitere Schritte vorstellen. Ich schaue vor allen Dingen darauf, wie Menschen, die hier Schutz vor einem Krieg suchen, möglichst schnell ins Arbeitsleben kommen.
Frage: Wie kann man Integration am besten erreichen?
Dürr: In der Vergangenheit ist immer gedacht worden, man könne durch gutes Zureden Integration schaffen. Integration schafft man aber durch ein Instrument, nämlich durch Arbeit. Und deswegen haben wir das Rückführungspaket im Januar beschlossen, um Abschiebungen zu erleichtern. Wir wollen, dass Menschen hierherkommen, um zu arbeiten und nicht, um soziale Sicherung zu beziehen. Deswegen machen wir die Hürden größer.
Frage: Braucht es eine „Festung Europa“?
Dürr: Nein. Ich bin dafür, dass Asylverfahren in Zukunft an den europäischen Außengrenzen durchgeführt werden. Wir müssen es aber gleichzeitig leichter machen, in den Arbeitsmarkt einzuwandern. Deswegen haben wir das Einwanderungsgesetz beschlossen. Die Frage der Migrationspolitik ist ökonomisch und gesellschaftspolitisch von absolut herausragender Bedeutung. Wir brauchen Arbeitskräfte, aber wir brauchen nicht mehr Menschen, die im Sozialstaat geparkt sind. Wenn die Migrationspolitik nicht geordnet wird, dann macht es die Menschen in Deutschland zu Recht rasend.
Frage: Nach dem Attentat in Mannheim haben Sie Abschiebungen auch nach Afghanistan in Betracht gesehen. Wie ist das umsetzbar, wenn die Bundesregierung keine offiziellen diplomatischen Verbindungen zum Taliban-Regime hat?
Dürr: Über Drittländer. Ich finde, es ist falsch zu sagen, wir können nichts tun. Im konkreten Fall geht es um eine Person, die 2013 nach Deutschland gekommen ist und 2014 schon einen negativen Asylbescheid hatte. Man hat seinerzeit einfach die Augen verschlossen, was Rückführungen nach Afghanistan betrifft. Das war ein Fehler. Wir müssen da ran. Das betrifft Syrien genauso, denn es kann nicht sein, dass in den vergangenen Jahren Menschen bei uns Schutz gesucht haben, die sich in Wahrheit durch Gewalttaten gegen unsere Gesellschaft stellen. Diese Menschen haben in Deutschland nichts verloren, die werden auch nicht integrierbar sein.