Christian Dürr: Ich bin unschlüssig bei der Impfpflicht

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr gab dem „Handelsblatt“ (Freitagsausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Jürgen Klöckner und Thomas Sigmund.:

Christian Dürr MdB

Frage: Herr Dürr, der Auftakt der Ampel steht im Zeichen der Pandemie. Im kommenden Jahr droht ein Impfstoff-Mangel. Wie optimistisch sind Sie, dass der Gesundheitsminister die zusätzliche Impfstoffdosen, die er angekündigt hat, rechtzeitig erhält?

Dürr: Mich hat die Meldung sehr überrascht, dass die alte Bundesregierung nicht ausreichend Impfstoff beschafft hat, um die Boosterkampagne nach vorn zu bringen. Ich bin Gesundheitsminister Lauterbach dankbar, dass er sich dem nun annimmt. Und ich bin zuversichtlich, dass er den Mangel beseitigen wird. Wir wollen, dass das Impftempo nicht abreißt.

Frage: Sollte der Mangel weiter bestehen, hat sich dann auch eine mögliche allgemeine Impfpflicht erledigt?

Dürr: Die Voraussetzung für eine Impfpflicht ist genügend Impfstoff. Das betrifft die allgemeine wie einrichtungsbezogene Impfpflicht gleichermaßen. Wenn wir nicht genügend Impfstoff haben, kann der Bund von niemanden verlangen, sich impfen zu lassen. Umso mehr ärgert mich das Versäumnis des früheren Gesundheitsministers. Denn wir haben eine gut laufende Impfkampagne. Es sind in der vergangenen Woche so viele Menschen geimpft worden wie noch nie.

Frage: Wie blicken Sie persönlich auf die allgemeine Impfpflicht? Die FDP ist hier uneins.

Dürr: Ich habe mich in dieser Frage noch nicht entschieden. Ich schaue mir auch Gruppenanträge aus allen Fraktionen dazu an. Noch vor einem halben Jahr haben alle Parteien gesagt, dass eine Impfpflicht nicht ansteht. Ja, die Impfung ist das zentrale Instrument. Und deswegen müssen wir uns anschauen, welche Wege es gibt.

Frage: FDP-Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki hat mit 20 weiteren Abgeordneten einen Antrag gegen die Impfpflicht eingebracht. Haben Sie davon gewusst?

Dürr: Ja, wir sprechen uns in dieser Frage natürlich ab. Dass Abgeordnete auch aus unserer Fraktion die allgemeine Impfpflicht ablehnen, ist aus meiner Sicht völlig legitim. Viele in der FDP zögern in der Frage noch. Es ist deswegen wichtig, dass wir im Parlament dazu eine transparente Debatte führen, die auch die Öffentlichkeit nachvollziehen kann. Dieses Vorgehen war schon bei anderen medizinethischen Themen wie der Organspende und Sterbehilfe erfolgreich. Da verbietet sich Parteipolitik. Hier muss jeder Abgeordnete nach seinem Gewissen entscheiden.

Frage: Die Debatte wird allerdings schon eine Weile geführt. Erlaubt die Dringlichkeit der Corona-Krise die Zeit, die sich die Ampelparteien für die Entscheidung nehmen?

Dürr: Ja. Impfpflichten bringen keinen kurzfristigen, sondern einen mittelfristigen Effekt bei der Pandemiebekämpfung. Deswegen gehe ich davon aus, dass wir im Januar intensiv in die Entscheidungsfindung gehen. Dann beginnen auch die Expertenanhörungen, die für die Debatte sehr wichtig sind. Wann die Entscheidung schlussendlich fallen wird, ist auch meiner Sicht allerdings noch nicht klar.

Frage: Experten melden sich allerdings seit Monaten dazu zu Wort. Auch FDP-Chef Lindner tendiert zur Impfpflicht, die Mehrheit der Bevölkerung ist dafür. Welches Argument fehlt Ihnen noch, wo sind Sie unschlüssig?

Dürr: Unschlüssig bin ich etwa bei der Frage, wie oft nachgeimpft werden muss - und ob wir irgendwann in eine Situation kommen, in der ein Impfstoff einen dauerhaften Schutz ermöglicht. Reden wir von einer einmaligen Impfpflicht - oder einer mehrfachen? Und ab welchem Alter gilt sie? Diese - auch medizinischen - Fragen bilden die Grundlage für die politische Entscheidung. Und hier fehlen mir noch Antworten.

Frage: Kommt das Land Ihrer Meinung nach denn ohne Impfpflicht durch die Pandemie - auch mit Blick auf die neue Omikron-Variante?

Dürr: Das kann man zurzeit schlicht nicht abschließend sagen. Auch hier brauchen wir mehr Erkenntnisse. Bei Omikron kommen die ja gerade. Am Anfang war die neue Variante eine hohe Gesundheitsgefahr, nun wird eher eine höhere Ansteckung befürchtet. Wir sind noch mitten im Lernprozess.

Frage: Am Donnerstag stellte Finanzminister Lindner den Nachtragshaushalt in Höhe von 60 Milliarden Euro vor, er hat dafür Kreditermächtigungen für die Coronakrise in den Klima- und Transformationsfonds geschoben. Was halten Sie von solch kreativer Buchführung?

Dürr: Solange wir im Notfallmechanismus der Schuldenbremse sind, muss das Ziel sein, diesen möglichst schnell zu beenden. Wir wollen 2023 die Schuldenbremse wieder einhalten und die Haushaltsnotlage beenden. Und die Maßnahmen, die wir mit den Krediten finanzieren wollen, zahlen genau darauf ein - nämlich, in dem sie die Wirtschaft wieder in Gang bringen.

Frage: Die Unionsfraktion hat immerhin eine Verfassungsklage gegen die Pläne des Finanzministers angekündigt. Wie sehen Sie die Erfolgschancen?

Dürr: Die Union müsste sich eigentlich selbst verklagen. Denn im letzten Jahr hat sie wie gesagt sogar zusätzlich Schulden aufgenommen, um diese dann in ein Sondervermögen zu stecken. Ich rate auch davon ab, die Schuldenbremse zu schleifen, um die Investitionen zu finanzieren, wie es die Union vorschlägt. Es wäre extrem schwer, das wieder rückgängig zu machen. Generell müssen unsere Maßnahmen darauf ausgerichtet sein, auf Wachstum zu setzen, um aus dem Schuldenmachen rauszukommen und den Steuerzahler nicht zusätzlich belasten zu müssen.

Frage: Weil Sie die Belastung ansprechen: Wird die Ampel-Koalition die 40-Prozent-Garantie bei den Sozialversicherungsbeiträgen aufrechterhalten?

Dürr: Hier kommt es ganz maßgeblich auf einen Faktor an: Nämlich auf eine gezielte Einwanderungspolitik in den Arbeitsmarkt. Wir laufen auf eine dramatische demografische Situation zu, in der die Babyboomer in Rente gehen. Ohne eine deutliche Einwanderung von 400.000 Arbeitskräften pro Jahr werden wir die Sozialversicherungssysteme nicht stabilisieren können. Dann werden auch die Sozialversicherungsbeiträge wesentlich steigen. Das gilt es, zu verhindern.

Frage: Eine Garantie aber wollen Sie nicht abgeben?

Dürr: Wir wollen, dass die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbelastungen nicht weiter steigen. Das ist das Ziel. Und daran können Sie die Ampel-Regierung messen.